Der hellgraue Fußboden in der Halle sieht so sauber aus wie ein Verkaufsraum für Luxuswagen. Damit das so bleibt, dürfen die Mitarbeiter außer Mineralwasser kein Getränk mit hineinnehmen. Aus dem dort abgestellten 7,5-Tonnen-Lkw sind die Motoren ausgebaut, sonst könnte ja ein Tropfen Öl oder Kühlwasser auslaufen. Alles soll perfekt sein – so wie die Fahrer, die der Paketdienst United Parcel Service (UPS) hier ausbildet.
Das global agierende Unternehmen, das mit seinen braunen Wagen überall erkannt wird, ist nicht nur der weltgrößte Zusteller. Der Konzern aus Atlanta im US-Bundesstaat Georgia gilt zugleich als der härteste Arbeitgeber der Branche. Dass Männer keine Vollbärte tragen dürfen oder dass in den Niederlassungen Blechkisten mit Schuhputzzeug an den Wänden stehen, sind nur die offensichtlichen Hinweise auf ein striktes Reglement. Nichts soll dem Zufall überlassen bleiben.
Schließlich geht es um das Wohl des Unternehmens. Alle Verrichtungen der Mitarbeiter werden deshalb genau unter die Lupe genommen. An einem der UPS-Wagen in der Schulungshalle ist deshalb unter dem Trittbrett an der rechten Ausstiegstür eine elektronische Waage eingebaut.
Ein Display daneben zeigt das Gewicht an, mit dem der Fahrer die Stufe betritt, wenn er aus dem Lkw aussteigt. Bei einem Mann mit 80-Kilogramm Körpergewicht sind dies durch die Bewegung etwa 210 Kilogramm. Bei 100 Stopps am Tag werden Kniegelenke, Bänder und Muskeln der Fahrer also sehr stark belastet, lautet die Botschaft dieser Ausbildungsstation.
In den USA gibt es bereits neue Trainingszentren
Fasst der Paketfahrer jedoch den Handgriff an der Seite des Türrahmens an, notiert die Waage 60 Kilogramm weniger Ausstiegsgewicht. Das macht täglich sechs Tonnen Unterschied – und die Gewichtsbelastung für die Knochen und Gelenke des Mitarbeiters fällt entsprechend geringer aus. Die logische Folge für UPS lautet: Das Anfassen des Griffes ist Vorschrift für die Mitarbeiter. Es hält sie länger gesund und vermeidet Krankheitstage.
Um den Berufsnachwuchs auf Konzernlinie zu bringen, hat UPS in den USA schon vor einigen Jahren neue Trainingszentren aufgebaut. Simulationen in 3-D und Schulung per Videoüberwachung haben Klassenräume und Frontalunterricht ersetzt. Nun gibt es die erste dieser neuen Ausbildungsstätten außerhalb der Vereinigten Staaten: auf einem Gewerbegelände im Kölner Stadtteil Porz.
Jedes Jahr sollen hier nun 900 angehende UPS-Fahrer durchgeschleust werden. Normalerweise natürlich unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit – doch ausnahmsweise gewähren der Konzern und der für die Ausbildungsstätte verantwortliche Manager Thomas Scholz einen Einblick.
Kleinere Schritte, das Körpergewicht verlagern
An der mittleren Ausbildungsstation in der Halle hängt ein Mitarbeiter in einem Gurtgeschirr, das an einer Eisenstange über seinem Kopf befestigt ist. Der Mann, dessen familiäre Wurzeln im Senegal liegen, soll über die weißen Bodenfliesen gehen. Beim zweiten Versuch bekommt er unter seine Arbeitsschuhe rutschige Gumminoppen geschnallt.
Jetzt muss er die Strecke mit einem Paket in den Händen abgehen. Prompt rutscht er hin und her, zum Glück fängt ihn der Gurt auf und lässt ihn nicht stürzen. Sein Ausbilder weist ihn an, auf dem Rückweg kleinere Schritte zu machen und das Körpergewicht ganz auf die Füße zu verlagern. So schafft er es, das simulierte Arbeiten bei Eisglätte auf den Gehwegen ohne Unfall zu bewerkstelligen.
Nebenan im Klassenraum müssen seine Kollegen auf Computerbildschirmen Hindernisse antippen: Ein Paketwagen fährt in der Computeranimation durch eine Siedlung, links und rechts tauchen Fahrzeuge oder Menschen auf. Blitzschnell müssen die Schüler sie erkennen und als Gefahrenquelle markieren. Wer nicht genug Punkte dabei sammelt, muss die Übung wiederholen. Umgekehrt wird die Schülergruppe, die nach den fünf Tagen Schulung bei den Tests am besten abschneidet, mit einem Geschenk belohnt – vergangene Woche gab es ein kleines Modell des UPS-Wagens.
Schärfere Arbeitsregeln sind zu akzeptieren und einzuhalten
Zu den Tabus gehört zum Beispiel das Rückwärtsfahren. Nur in unvermeidbaren Situationen sollen die Fahrer den Rückwärtsgang einlegen. Als Begründung für diese Vorgabe werden die mit dem Rückwärtsfahren verbundenen Gefahren und der mögliche Zeitverlust genannt. Tatsächlich wird weltweit bei UPS nichts so argwöhnisch verfolgt wie die Unfallzahlen.
Als vor Jahren einmal ein Kind in einer Spielstraße von einem zurücksetzenden UPS-Laster verletzt wurde, ließ der Konzern in alle Fahrzeuge Kameras einbauen. Ab sofort waren die Fahrer verpflichtet, dort hineinzuschauen, egal ob sie rückwärts oder vorwärts losfahren. „Es kommt immer einmal wieder vor, dass Kinder sich auf das Trittbrett am Ende des Wagens setzen“, weist Ausbildungschef Scholz auf Gefahrenpunkte hin. Fährt ein UPS-Mann ausnahmsweise dennoch rückwärts, muss er alle drei Sekunden auf die Hupe drücken.
Fahrversuche auf dem Verkehrsübungsplatz
Der interne „UPS-Führerschein“ dürfte die härteste Bewährungsprobe für neue Mitarbeiter sein. Auf einer Art Verkehrsübungsplatz neben der Halle in Köln lernen die Neulinge, wie sie die „Tusneldastraße“ herunterfahren und vor einer Privatadresse – in diesem Fall sind es kleine Holzschuppen – eine Sendung abgeben. Am Ende des „Amselwegs“ üben sie das Rangieren an eine Rampe heran und können dabei an einem in variabler Höhe angebrachten gelben Balken scheitern. Kratzt der Wagen die Latte, hat der Fahrer vorher nicht auf die Durchfahrtshöhe geachtet – und muss es erneut versuchen.
Endgültig zur Sache geht es beim „Drill Drive“, wenn der UPS-Fahrlehrer auf die Straße bittet. Dort müssen die Schüler zeigen, dass sie die zehn Kommentarpunkte und fünf Sehgewohnheiten so verinnerlicht haben wie ihr eigenes Geburtsdatum.
Die Prüfungssituation erinnert an das Cockpit eines Flugzeugs, wenn Pilot und Co-Pilot die Sicherheitschecks machen und laut aufsagen: „Ich zähle bis drei, schalte bei eins den Gang ein, bei zwei löse ich die Handbremse und bei drei drücke ich auf das Gaspedal“, lautet zum Beispiel die Formel, mit der jede einzelne Anfahrt nach einem Ampelstopp kommentiert werden muss. Jedes vermeintliche Hindernis am Straßenrand wird genannt, jeder Spurwechsel angesagt, jedes Geschwindigkeitsschild aufgezählt.
Die Arbeitsbedingungen gelten als problematisch
Die Arbeitsbedingungen gelten unter Arbeitsrechtlern als problematisch: Durch die Sendungsverfolgung und die Handscanner-Technik sind die Fahrer praktisch in keiner Minute des Tages unbeobachtet. UPS weiß immer, wo die 3500 Fahrer in Deutschland gerade was machen. Das ist nicht nur unter Aspekten des Datenschutzes fragwürdig, es bedeutet auch eine hohe Verdichtung der Arbeit.
Der Paketriese ist ein typisches Unternehmen – für die USA. „Bei UPS kann man amerikanische Firmenphilosophie in Reinkultur betrachten. Jeder Handgriff wird in den Handbüchern beschrieben und muss genau so befolgt werden“, sagt Professor Stefan Sell, Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung der Hochschule Koblenz. Natürlich hat das eine Kehrseite. „All diese Regeln können auch gegen die Mitarbeiter verwendet werden, nämlich dann, wenn sie sich nicht daran halten“, so der Arbeitsmarktexperte. Das erhöhe den Leistungsdruck und verschaffe der Firma Sanktionsmöglichkeiten.
Gesundheitsmanagement ist Aufgabe der Unternehmen
Amerikanische Konzerne kümmern sich selbst darum, weil sie hohe Haftungen und Geldzahlungen riskieren, wenn sich ein Mitarbeiter im Job verletzt. Deshalb stecken US-Manager viel Geld in Ausbildung und Vorbeugung, wie mit möglichen Gefahren umzugehen ist. UPS ist dafür ein Beispiel, wenn auch ein extremes.
„Es ist ein Teil der DNA von amerikanischen Managern, dass sie in der Ausbildung denken, sie müssten ihren Mitarbeitern jedes Detail vorschreiben“, sagt Instituts-Chef Sell. Das wiederum sei ein Gegensatz zur deutschen Berufsausbildung, in der die Beschäftigten dazu gebracht würden, ihre Dinge möglichst eigenständig zu erledigen.
Ver.di-Leute sprechen ungern über die Konflikte mit UBS
Zwar gibt es an fast allen UPS-Standorten Betriebsräte, doch die werden nicht von Ver.di dominiert. Stattdessen sitzen dort „etablierte Arbeitskräfte“, wie es bei der Gewerkschaft heißt. Ver.di-Funktionäre sprechen ungern über die Konflikte mit UPS, schon gar nicht lassen sie sich zitieren. Anders als beim US-Konzern Amazon, dessen Logistikzentren immer wieder bestreikt werden, hofft Ver.di, bei UPS wohl im Hintergrund etwas zu erreichen.
Ein Mal im Jahr gibt es bei UPS die „On Job Supervision“, die Prüfung bei der Arbeit, bei der das Gelernte abgefragt wird. Und wer lange genug durchhält, auf den wartet der „Club of Honour“: Nach 25 Jahren ohne vermeidbaren Unfall wird der UPS-Fahrer in diesen Klub aufgenommen. Weltweit gibt es rund 8700 Mitglieder – 160 Fahrer kommen aus Deutschland. Zu erkennen sind diese Vorzeige-Mitarbeiter an kleinen Aufnähern am Oberarm der Uniformhemden.
Foto: Walter G. Allgöwer-picture alliance
Quelle: Die Welt 29.7.2016